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MT-Relaunch2014_gesamt

Dienstag, 4. November 2014 · Nr. 256 Mehr MT Mindener Tageblatt 37 Aufbruch und Veränderung Ein Plädoyer für den Qualitäts-Lokaljournalismus, dessen Zukunft längst begonnen hat Zur Person: Berthold L. Flöper ■ Berthold L. Flöper (58) leitet das Lokaljournalistenprogramm der Bundeszentrale für politische Bildung/ bpb (www.bpb.de/lokaljournalistenprogramm). Dazu gehören Modellseminare, Workshops, Kongresse sowie Print- und Onlinedienste wie die „Drehscheibe“ (www.drehscheibe.org) und Publikationen wie die Reihe „Themen und Materialien für Journalisten“. ■ Er ist gelernter Lokaljournalist und war Lokalredakteur bei der „Westfalenpost“ und beim Bonner „General Anzeiger“, Stellvertretender Chefredakteur der „Volksstimme“ in Magdeburg, Pressesprecher des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) und der Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz in Düsseldorf sowie Mitinhaber eines Bonner Pressebüros. In dieser Zeit war er auch verantwortlicher Redakteur des Medienmagazin „Journalist“ und des „NRW-Journals“. Berthold L. Flöper. Foto: pr Tina Stommel vom Bonner General- Anzeiger (GA) beschreibt die einfache Wahrheit: „Jeder Mensch ist Teil einer Familie … und auch die Zeitung gehört auf ihre Weise zu einer Familie dazu. Familien nämlich schlagen Wurzeln… Familien sind auf vielfältige Weise in dem Gebiet, in dem sie wohnen verankert.“ Aber auch Redaktion ist Familie, die eine unglaublich breite Themenvielfalt für Service, Information, Rat und Hilfe, Unterhaltung und Interaktion hervorbringen kann. In guter Erinnerung: Sechs Familien aus dem GA-Gebiet übernahmen für einen Tag die Chefredaktion, bestimmten komplett die Inhalte. Chefredakteur Andreas Tyrock war an diesem Tag nur Zuschauer – die 18jährige Ann-Kathrin Cäsar leitete als Chefredakteurin die Konferenzen. Lokale Zeitungen sind Familienzeitungen – das sollte man sich noch bewusster machen. Modell Bürgerzeitung „Bürger“ steht für selbstbewusste Leserinnen und Leser, die die Redaktion in Gestaltung und Themenfindung einbezieht. Somit stellt sie sich einer ganz besonderen journalistischen Herausforderung. „Denn das moderierte Gespräch mit den Bürgern ermöglicht uns Journalisten neue Sichtweisen und mehr Wissen. Wir dürfen Bürgerbeteiligung nicht nur von der Politik fordern, sondern müssen sie auch selber ermöglichen – schon um zu lernen, was die Leser interessiert, was sie als Kunden erwarten,“ erklärt einer der jüngsten Chefredakteure des Landes, Joachim Braun, vom Nordbayerischen Kurier. Die Zeitung kann dann ihre Anwaltsund Vermittlerfunktion - auch über die sozialen Medien - gezielt ausspielen. Im Sinne der Bürger muss sie sich einsetzen, nachhaken, aufklären und, wenn es sein muss, anecken. „Wir nennen uns Bürgerzeitung, weil wir gemerkt haben, dass auch uns die Bürger davonlaufen. Wir saßen in derselben Falle wie die Politiker (übrigens auch manche Wirtschafts-, Gewerkschafts und Kirchenführer)“, so Paul-Josef Raue, Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen und einer der Vorkämpfer für einen neuen Lokaljournalismus: „Wir saßen mit den Würdenträgern in der ersten Reihe und ließen das Volk buchstäblich hinter uns.“ Denn Journalisten gehören nicht in die erste Reihe. Redaktionen sind nicht die vierte Gewalt, sie sind staatsfern, aber inmitten der Gesellschaft. Das sind Konzepte, sie sind modern, sie sind leidenschaftlich, sie leben die Faszination Lokaljournalismus. Angesichts dieses großen Engagements in den Redaktionen landauf und landab kann ich Günther Rager deshalb nur zurufen: Für qualitätsvolle Lokalzeitungen hat die Zukunft längst begonnen. die Themen aus der Region, aus der Nachbarschaft, liebevoll zu präsentieren und gleichzeitig die großen Themen der Zeit für die Region aufzuarbeiten: global wird lokal. Modell crossmediale Zeitung Das Thema beherrscht die Debatten, weil noch keiner den Stein der Weisen gefunden hat. Wird zu wenig experimentiert und investiert? Bringt man eine Geschichte auf Facebook und kocht sie dort hoch, lässt man sie da oder bringt man sie wieder ins Blatt? Sollte man Geschichten eventuell nur online im Video abbilden oder mit einer Bildstrecke? In der Praxis hilft nur auszuprobieren, was bei den Lesern ankommt. „Wir müssen uns bewusst machen, dass wir praktisch alle blattbestimmenden Beiträge zunächst für die digitalen Kanäle verfassen“, sagt Christoph Linne, Chefredakteur der Oberhessischen Presse in Marburg. Die digitale Welt nimmt Einfluss auf alle Lebensbereiche. Soziale Medien sparen Zeit und Energie – „als Korrektiv, als Impulsgeber, als internes und externes Expertennetzwerk“, sagt Linne und fügt hinzu: „Faktisch ist die Zeitung der Zukunft immer auf Sendung“. Modell Familien-Zeitung Sie nimmt die Familie als Zielgruppe ins Visier, nimmt sie in allen Facetten ernst: Patchwork, Alleinerziehende, Großeltern, Jugendliche oder Kinder. Chefetagen der Redaktionen und Verlage gut beraten, wenn sie gleichsam eine Start-up-Atmosphäre schaffen: freier und kreativer zu arbeiten und Neues auszuprobieren. Unabhängig davon muss sich die Lokalzeitung der Zukunft im Klaren sein, was sie will. Sie muss Abschied nehmen von Illusionen, von schlechten Routinen. Kann die oft öde Vereinsberichterstattung heute nicht ganz anders aussehen? Es geht um Konzepte mit großen Ideen wie die folgenden, preisgekrönten: Modell Heimat-Zeitung Wir werfen den angestaubten, spießigen Heimatbegriff über Bord. Theoretisch fällt die Antwort leicht: Heimat ist der Ort, wo ich meine Familie, meine Sozialbeziehungen, meine Freunde, meinen Beruf, meine Wurzeln, meinen Anker habe. Nur: Was heißt das konkret? Früher ließ sich dieser Ort auf der Landkarte ankreuzen. Aber heute? Für einen jungen Menschen, der sich täglich in Social Networks bewegt, lautet die Antwort auf die Frage, wo seine Heimat ist, nicht mehr einfach bloß: dort, wo ich wohne. Heimat kann, so haben die Forschungen des Kölner Psychologen Jens Lönneker ergeben, für den Jugendlichen in der Mustergasse 11 etwas ganz anderes sein als für seinen Nachbarn in der Nummer 13. Doch was heißt das für den Lokalredakteur? Sowohl über und aus dem Gemeinderat zu berichten, falls relevante Themen anstehen, als auch von der Love-Parade. Jeder jüngere Mensch aus Minden hat mindestens einen Klassenkameraden oder Facebook Freund, der dabei war. Auch „Stuttgart 21“ ist nicht zu weit hergeholt, um Thema in Minden zu sein. Wutpotenzial gibt es überall. Heimat steht also für die Absicht, So fördert die EU, landauf, landab, unzählige Projekte, seien es Radwege, Parkanlagen oder Initiativen für eine bessere Infrastruktur. Bekannt sind aber oft nur die regionalen Unterstützer. Was man täglich im Supermarkt kauft, wie es aussieht, heißt und was drin ist, lässt sich meist mit EU-Richtlinien erklären. Gerade für Themen wie Europa brauchen wir Lokaljournalisten, um politische Sachverhalte so „herunter zu brechen“, dass sie vor Ort eingeordnet werden und sich die Leser selbst eine Meinung dazu bilden können. Schon diese wenigen Beispiele machen deutlich, wie groß die Verantwortung einer Lokalzeitung für das demokratische Gemeinwesen ist. Es ist unglaublich, wie viele Sterngucker und Pessimisten wir in der Republik haben, wenn es ums Thema „Überlebt die Zeitung oder stirbt sie schon morgen?“ geht. Natürlich ist die Zukunft der Zeitung bedroht, wenn Zeitung als etwas von gestern und nur auf Print hin definiert wird. Aber muss man das? Ich setze da lieber auf gut gemachten seriösen Journalismus – egal auf welchem Kanal. In der Tat haben die Zeitungsverlage heftige Attacken überstanden: die Online- und elektronischen Anbieter nahmen ihnen die Aktualität weg. Das ist aber auch keine Kunst. Aktuelle Untersuchungen sagen jedoch: Die etablierten Medien sind weiterhin Meinungsführer. Der Einfluss von Bürgerjournalisten auf öffentliche Debatten bleibt marginal. Aufbruch und Veränderung sind in den Redaktionsstuben, die nun Desks oder Newsrooms heißen, angekommen. Online steht im Mittelpunkt des Denkens. Es gibt kein „Weiter so“. Die Digitalisierung wird über kurz oder lang alle Kleingläubigen vor sich hertreiben, und deshalb sind die Von Berthold L. Flöper „Ob Qualitätszeitungen Zukunft haben? Gegenfrage: Wann beginnt die Zukunft? Sehr langfristig gesehen, weiß das niemand.“ Diese Frage hält der renommierte Dortmunder Zeitungsforscher Günther Rager für falsch gestellt. Denn es sei die Frage nach der Verpackung, nicht nach dem Inhalt. Und Recht hat er. Ob auf Papier, Polymer-Folie oder auf dem Screen, sei es ein Tablet oder Smartphone: Qualitätsjournalismus hat in jedem Fall eine Zukunft, zumindest solange, wie Menschen in demokratischen Gesellschaften ihn für unverzichtbar halten. Übrigens: Für mich sind die Lokal- und Regionalzeitungen selbstverständlich Qualitätszeitungen. Sie sind unverzichtbar, denn ohne sie ist das vielfältige Leben in den Regionen Deutschlands nicht denkbar. Mehr als 80 Prozent der Leserinnen und Leser von Tageszeitungen nutzen in erster Linie den Lokalteil. Lokalzeitungen sind das Medium, aus dem sich möglichst viele Menschen, am besten die Mehrheit, verlässlich informieren können. Wer, wenn nicht Lokalzeitungen, kann die Plattform für hartnäckige und sinnvolle Gespräche zwischen Bürgern und Politikern bieten? Wirksamkeit und Relevanz des Lokaljournalismus wurde lange unterschätzt. Die Macherinnen und Macher in Lokalredaktionen haben mittlerweile die Chance genutzt, mit Konzepten und herausragenden journalistischen Leistungen auf sich aufmerksam zu machen. Der Deutsche Lokaljournalistenpreis der Konrad-Adenauer- Stiftung und der von der Bundeszentrale für politische Bildung monatlich herausgegebene Pressedienst „Drehscheibe“ beweisen immer wieder, was Lokalzeitungen leisten und welches Potential in ihren Redaktionen steckt. Das Mindener Tageblatt befindet sich immer wieder im Reigen der Besten. Ich ziehe meinen Hut vor so viel Engagement. Es wird nicht jeder Lokaljournalist ständig darüber nachdenken, dass er ein kostbares Gut der Demokratie managt, nämlich Öffentlichkeit „herzustellen“ – an guten wie an schlechten Tagen. Positives zu befördern und unangenehme Nachrichten nicht zu unterdrücken. Lokalredakteure sind nicht Erfüllungsgehilfen derer, die die Macht ausüben, sondern sie bilden die Welt ab, die uns umgibt, leuchten sie aus und können es sich nicht leisten, die Unebenheiten dieser lokalen Welt zu übersehen. Es erfordert keinen großen Mut, den Krieg in Syrien und seine Folgen voller Leidenschaft aus der Ferne zu kommentieren oder der Bundeskanzlerin in einem Leitartikel die Leviten zu lesen. Der Lokaljournalist aber, der einem Stadtrat oder einflussreichen Lobbygruppen Fehlverhalten nachweist, geht durchs Feuer. Die Nachrichten, die er überbringen muss, sind unangenehm – trotz Nachbarschaft, ob im Sportverein oder in der Kirchengemeinde, und obwohl die Tochter des Bürgermeisters die gleiche Klasse besucht wie der eigene Sohn. Ein gutes Beispiel für Qualität im Lokaljournalismus sind Wahlen, ob Kommunal-, Landtags-, Bundestagsoder Europawahlen: Sie sind ein Schaulaufen der besten Lokalredaktionen, die sich nämlich nicht vor den Propagandakarren der Politik spannen lassen. Vielmehr informieren sie objektiv und leserorientiert. Mehr als 80 Prozent der Leser von Tageszeitungen nutzen in erster Linie den Lokalteil. Foto: dpa Aufbruch und Veränderung sind in den Redaktionsstuben, die nun Desks oder Newsrooms heißen, angekommen. Online steht im Mittelpunkt des Denkens. Für qualitätsvolle Lokalzeitungen hat die Zukunft längst begonnen.


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